Elias Kirsche - Text und Sex

Erotographie - Erotosophie - nacktes Dasein

Ecce Homo ?

Für Lisa

Dein Moschus –

mein Muskel –

Es ist so einfach –

Bis zum Morgen

zusammen sein.

Aber ich will nicht mehr

der Mann sein,

Aber

ich will nicht mehr.

Das ist so

einfach –

Ich will sein,

Nur noch sein.

 (Ilya Kormiltsev, 1986)

Er war kerngesund und lebenshungrig als er in eine verarmte provinzielle Familie hineingeboren wurde. Aufgewachsen im Grenzgebiet am Hafen wurde er schnell reif, stiess sich die Hörner ab. Männer bezeichneten ihn als adlig und ritterlich. Sie respektierten ihn und behandelten ihn wie einen Helden. Frauen meinten, er sei heissblütig und grossmütig. Sie wurden feucht und schwach, wenn er in die Nähe kam und ihre Silhouetten mit seinem direkten Blick penetrierte. Sein starker muskulöser Körper, glanzvolles Haar und grüne Augen faszinierten die jungen Schönheiten. Seine Aura, Ausstrahlung und Pose gaben zu erkennen, dass er existentielle Schmerzen und schicksalhafte Bitternisse ertragen kann. Die älteren Damen wurden verzaubert, gerade entzückt, wenn er – der leichtsinnige Dandy – ihnen über den Weg lief. Seine Stimme klang herrisch, aber verführerisch. Die arrogante Haltung, fürstlicher Gang und tiefer wissender Blick vermittelten stumme Ekstase und fesselte Pilgerinnen und Sucherinnen.

In der Jugendzeit ging er wandern. Er verließ angestammte Pfade, gab seinem Trieb nach, kehrte nicht mehr zurück nach Hause. Die Nachbarn klatschten als er die Flucht wagte, hofften, dass Wachhunde ihn an der Grenze gejagt und gefressen hatten. In Wirklichkeit folgte er nur dem Weibchengeruch: blutjunge Kätzchen, jugendliche, reife. Ihre graziösen Gestalten, ihr eleganter Lauf trieben ihn in den Wahnsinn, machten ihn wild. Er hatte vor niemandem Angst, lebte einfach, mischte sich in Prügeleien mit Rivalen ein. Er gewann, nahm die Beute von hinten, stöhnte hysterisch. Er liess sich nicht mehr durch Vernunft leiten, nur noch durch Gespür und Erektion. Der Instinkt führte ihn durch das Leben, Pheromone galten ihm als Wegweiser.

Seine natürliche Leidenschaft zeichnete sich durch Spontanität aus. Sie bereitete ihm Sorgen, aber verhalf auch zu höchstem Genuss. Haus, Familie, klägliches Supermarkt-Essen – die Alltagsprosa, die ihm schon als Kind bekannt war… – das war nichts für sein spielerisches Gemüt. Im Gegenteil: er war der Herrenlosigkeit, der Strasse, der Naturgewalt gewachsen. Er schätzte seine nomadische Freiheit, schwärmte vom weissen Schnee im Winter, vom rostbraunen Dreck im Herbst. Dabei gelang es ihm, sich sauber zu halten. Geplänkel mit Feinden, Bacchanalen mit Geliebten: all die ungezähmte Zügellosigkeit eines Lustmolches vergrößerten nur seinem Charme. Er wanderte ewig, ein Mal schlicht er sogar über die Grenze. Dennoch kehrte er zurück, und irgendwann war er erschöpft. Er schmiegte sich an eine nasse Bank und schlief.

Sie stammte aus einer guten, sogar sehr guten Familie. Der Vater – ein weicher Liberaler, ein Lektor im Verlag, die Mutter – eine strenge Russischlehrerin. Mit Fünfzehn spross sie zu einer langbeinigen Mieze. Ihr Charakter – die Bestie, ihr Aussehen – steiler Zahn, ihre Lebenseinstellung – der Nihilismus. Die Brüste – zwei reife Nektarinen, der Hintern – eine volle Aprikose. Als sie siebzehn war wurde das alte Regime gestürzt. Das Land rollte auf einen anarchischen Abgrund zu. Wilde Lust wuchs in ihr unbändig, gepaart mit rebellierendem Geist. Sie studierte an der Kunstakademie, dichtete experimentell, spielte Cello. Nach den Ästhetik-Vorlesungen ging sie auf die Abenteuersuche los. Sie wollte nicht bei den Eltern übernachten, sondern das Leben auskosten. Männer schmecken. Zaubertränke und verbotene Stoffe degustieren. Allmählich machte sie sich vertraut. Sie degustierte das Leben, sich selbst, ihre zufällige Beischläfer. Sie war neugierig, ob sie auf der Messerklinge Burlesque tanzen kann. Ob ihr scharfer Sinn fürs Gleichgewicht nicht versagt.

Ein interessantes Leben bedeutete für sie ein Leben zum Trotz, eine leichtsinnliche Überlebenskunst, dem überlebensgesetz zuwider. Eine Existenz im Namen der Lust, unentwegt. Sie wechselte Betten im Takt mit den Unterhosen, ging an nichts vorbei. Erreichte eine vierstellige Zahl ohne mit dem Wimper zu zucken. Danach fing die Libertinage an, dämonische Synthese aus Gewalt und Begehren. Die Euphorie wechselte sich mit Verzweiflung ab, Manien mit Depressionen. Ihr Nervensystem tat weh.

Als sie Fünfundzwanzig wurde, schlug sie in ein anderes Extrem um. Sie beschloss Drogen und Unzucht so viel wie es ging zu reduzieren. Fast schon stoisch liess sie nur noch selten jemanden in sie eindringen, nur, wenn es sehr juckte. Nun durfte niemand mehr nachts bei ihr schlafen, sie befürchtete am Morgen einmal mehr nicht widerstehen zu können. Die Morgenlustgymnastik ersetzte sie durch den Sport: Tanzen, Schwimmen, Reiten, um sich von Anspannungen zu befreien und die Entzugserscheinungen zu vermeiden. Dennoch funktionierte es nicht ganz glatt. Die Lust sammelte sich in ihrem Körper an. Sie wurde eitel, streng und gereizt. Sie geilte sich an der eigenen Unerreichbarkeit an.

„Wozu all diese Sublimabstinenz?“ vernahm sie ihre innere Stimme.

„Um den Roman zu verfassen“, antwortete sie.

Nur noch den Roman. Aber auch, um schlanker zu wirken. Um begehrenswerter in Augen der Männchen zu erscheinen.

Sie war ambitioniert, diszipliniert, fleissig. Arbeitete und hielt sich zurück, ohne sich abzulenken. Wurde immer dünner, immer ungeselliger.

„Menschen mag ich nicht so sehr“, wiederholte sie.

Ihr Roman bekam zu dieser Zeit die ersten unklaren Konturen.

Sie lernten sich zufällig kennen. Sie fand ihn am Bahnhof. Er döste friedlich auf dem kalten Fliesenboden. Sie kniete vor ihm nieder, berührte seine Nasenspitze. Sie weckte ihn auf. Er starrte ihre Augen an: weit geöffnete, grau-blaue, nachgezeichnet mit einem schmalen schwarzen Strich.

Sie wagten es zusammen: komme, was da wolle. Sie zähmte ihn, lud ihn ein, gab ihm zu essen.

„Fühle dich wie Zuhause“, sagte sie. „Sei einfach da“.

Sie forderte nichts als Entgelt. Sie erwartete nichts. Dennoch durfte es keine Nähe zwischen ihnen geben. Alles, was zwei miteinander treiben könnten, langweilte sie. Im Internet las sie über Cuckolds – einer innovativen Beziehungsform, bei der sie sich mit anderen Männern exzessiv auslebte während sie ihn keusch hielt. Die Vorstellung reizte sie sehr. Eines Abends streichelte sie zärtlich seinen Kopf:

„Mein Schatz… Einmal im Monat brauche ich einen fremden Schwanz. Einen Schwanz, der gross und hart ist. Ich habe ihn nötig“, flüsterte sie ihm ins Ohr.

„Nein, nicht für sehr lange. Nur für ein paar Stunden. Duldest du das?“

Er betrachtete die eigene winzige Spiegelung in erweiterten Pupillen ihrer Augen und nickte schweigend. Er liess es zu, wurde zum Cuckold erzogen. Es war aber unerträglich. Solange in ihrem Bett etwas geschah, was einem Kind als Kampf vorkommt, fand er keine Ruhe mehr. Er wimmerte leise, danach immer lauter, das Weinen wurde allmählich zum Gebrüll. Er warf sich aus einer Ecke ihrer kleinen Küche in die andere, donnerte mit Töpfen, zerbrach Gläser. Er wusste nicht, wie er seinen natürlichen Protest sonst noch ausdrücken konnte. Wenn auch müde, gealtert und niedergeschlagen, konnte er auf das Wichtigste und das Schönste im Leben nicht verzichten. Umso mehr, wenn das begehrte Weibchen in seiner Nähe war. Ein saftiges Mädel, das – obwohl selten – sich regelmässig und bis zur Erschöpfung von fremden Männern durchbohren liess.

Die Eifersucht, gemischt mit wildem Verlangen, brannte von innen. Sein angespanntes Organ schmerzte. Er war tagtäglich und nachtnächtlich angeschwollen. Er rieb seinen Körper stundenlang an raue Oberflächen, begoss Decken, Wände und Boden mit Samen. Er suchte einen Ausweg, fand aber keinen. Es gab keinen Ausweg für ihn.

Er hörte nicht auf zu leiden auch als es vorbei war. Er heulte und johlte, wenn er mit vom Wahnsinn geröteten Augen die glanzlose Landschaft hinter dem Fensterglas anstarrte. Sie reagierte depressiv und mit Verdrängung. Spermaflecken überall ärgerten sie. In Ihrer Wohnung stank es brünstig. Irgendwann könnte sie weder seinen noch ihren eigenen Lustgeruch ertragen. Sein ungestilltes Verlangen und sein Schreien lenkte sie von der Schreiberei stark ab.

„Halt endlich die Fresse!“ brüllte sie bissig auf. Er fauchte sie laut an und warf sich auf sie. Klammerte an ihrer nackten Brust, biss fest in ihre Brustwarze. Sie spannte sich an. Entspannte sich wieder. Versuchte seine abrupte Geste als erotische Regung zu deuten. Sie war bereit, sich ihm hinzugeben. Dennoch zerkratzte er nur blutig ihren Nacken und ihr Gesicht, indem er nervös knurrte und spitze Zähne zeigte. Dann sammelte sie Kraft und wand sich heraus, weg von seinem haarigen Leib. Sie war entrüstet, konnte lange weder lesen noch schreiben. Die giftigen Kratzwunden verheilten nicht. Die Zeit brachte auch keine Heilung. Nicht in der Lage ihm zu verzeihen, sagte sie:

„Ich habe mir etwas überlegt. Ich weiss, wie ich dich zu einem weichen und zärtlichen Wesen erziehe. Wir werden deine Eier abschneiden! Schon ganz bald wirst du ein entspannter und freundlicher Hase.“

Er zuckte auf, als er ihre Worte hörte. Er blieb ihr lange eine Antwort schuldig. Die Angst quälte ihn. Er drehte den Kopf in Richtung Tür – traurig, mit Anstand. Diese unzweideutige Bewegung entging ihrem sonst aufmerksamen Blick.

Der Morgen erwies sich als düster und trostlos. Ein schwerer violetter Nebel hing über der Kirche. Die Glocken donnerten immer lauter, immer aufdringlicher. Sie weinte. Ungewollt erinnerte sie sich an ein Gedicht von Alexander Block:

„Der Morgen dauerte, dauerte und dauerte… 

Und eine müssige Frage fiel zur Last.

Und nichts dürfte aufgeklärt werden 

im brausenden Frühlingstränengras.“ 

Der Chirurg war ein mickriger trockener Typ. Er trug einen knittrigen Kittel. Ihre letzte Zweifel vertreibend, drückte er sich altklug und manieriert aus. Er sprach mit einem piepsenden Falsett als sei er selbst kastriert worden. Stellte Betrachtungen über Hormone an. Oksitozyn, Serotonin, Testosteron.

„Das wird ihm aber nicht weh tun, oder?“ fragte sie.

„Er wird keine Schmerzen verspüren. Wir geben ihm ein Schlafmittel.“

Sie wollte am liebsten selbst einschlafen. Sie wollte vergessen. So tun, als ob sie einander nie gekannt hatten. Doch es stellte sich ihr noch grausamer dar, das liebgewonnene Spielzeug seinem Element – der Strasse – zurück zu geben.

Auf dem Rückweg lief er humpelnd hinter ihr. Es regnete. Beide waren bis auf den letzten Faden nass. Am Abend legte er sich flink zu ihr ins Bett, schmiegte sich an ihren warmen Oberschenkel, schniefte.

Die Ruhe kehrte endlich in ihr Leben ein. Sie fühlte sich gelassen. Gelassen, besonnen und vernünftig, auch wohlweislich. Sie glaubte, sie fand den Schlüssel für die Erde. Ihre Gedichte strahlten Einsicht und Begeisterung, sogar Heiterkeit. Sie klangen seelenruhig, sachlich und konkret. Die Reime wurden rigoros und präzise, als ob sie von einem Brahmanen stammten, als ob ein Zen-Mönch dichtete. Sie produzierte viele Texte. Meistens ging es um die ewige Liebe und um die wiedererlangte Weiblichkeit.

Später entdeckte sie die Wissenschaft für sich. Sie studierte Gender Studies. Sie veröffentlichte zwei Essays über schädliche Wirkung des Testosterons und eine historische Forschungsarbeit über die Entmannung. Sie wurde bekannt und renommiert. Wie ein Stern glänzte sie auf der Universitätsszene.

Auch er fand immer mehr Ruhe in sich. Er wurde sanftmütig und gemütlich, etwas dick, roch fast nicht mehr. Er wurde von ihr gezähmt und domestiziert, nahm gerne Streicheleinheiten entgegen. Am Abend schaute er gelassen Fern, legte sich früh ins Bett, schlief sofort ein. Er träumte nichts. Er drückte sich an sie und hatte gerne ihre Ferkelzärtlichkeiten. An einem  Frühlingsmorgen, kurz vor dem Sonnenaufgang, kackte er direkt in ihr Bett.

Als sie gegen Mittag wach wurde, entdeckte sie zwischen den Brüsten eine braune Masse. Sie schnupperte. Im Zimmer stank es nach Kot.

„Und du, Dreckskerl, erlaubst es dir, mir ins Bett zu scheissen?!“

Sie schrie. Sie packte ihn am Rist. Stiess ihn kräftig mit der Schnauze in den dickflüssigen Batzen.

Er leistete nicht Mal Widerstand. Er versuchte nicht wegzulaufen. Er schaute ihr tief in die Augen und miaute leise.