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Unter dem Regen (2013-2015)

Der ewige Regen

Photo: Marc Lüthi

„ * Zu zweit wissen wir es.“

„* Wieder verging derselbe Tag.“

(Maurice Blanchot „Warten Vergessen“)

1. Wie heissen Sie?“ „Woher kommen Sie?“ „Was machen Sie?“ Die einfachsten Fragen kamen ihm immer schon als die schwierigsten vor. Drei Fragen, auf die er nie eine Antwort wusste und immer noch keine weiss, die unter Menschen am häufigsten gestellte Fragen. Je mehr Zeit verging, je mehr Wohnorte, Frauen und Stellen er wechselte, desto schwieriger fiel es ihm diese Fragen zu beantworten. In der kleinen Stadt am See angekommen, versuchte er ihnen zu entkommen. Das war nicht schwer, denn er tat nichts, um Interesse für sich zu wecken. Langsam, ganz langsam entwöhnte er sich, diese drei Fragen auch an sich selbst zu stellen.

2. Die Fragezeichen wanderten nach innen, die Worte lösten sich auf. Er fing an Cigarillos zu rauchen und spielte mit zwei Bekannten Préférence, ein altes Österreich-Ungarisches Kartenspiel. An einem Mittwoch, als er eine neue Kartenkombination beobachtete, kamen die ersten Symptome. Er spürte plötzlich Schmerzen im Kreuzbein. Seitdem beunruhigte ihn die Rückenneuralgie. Über den Bandscheibenvorfall las er einmal, dass diese Äusserung des Körpers ein Anzeichen für Verdrängung sein kann. Er litt weiter.

3. Der Regen fing unerwartet an. Er vergass längst, welcher Wochentag damals war, und an das genaue Datum konnte er sich ebenfalls nicht erinnern. Zuerst schrieb er diesem Dauerregen keine grosse Bedeutung zu.

4. Es war Frühling. Auf dem Weg vom Büro nach Hause bemerkte er flüchtig einige Wetterleuchten. Als er am See vorbei ging, blieb er für einige Sekunden stehen, um die Schwalbe zu betrachten, die langsam über dem dunkelgrauen Wasserspiegel schwebte. Die Seeoberfläche schien rau und schwer, wie eine riesige Bleiplatte, zu sein. Als der Himmel sich plötzlich mit Wolken überzog, beeilte er sich, einen Hagelschauer befürchtend. Er schritt mit grossen Schritten dem Kanal entlang, in nebulöse Gedanken über vergangenen Tag versunken. Die ersten kalten Tropfen trafen ihn vor dem Hauseingang. Er fuhr mit dem Fahrstuhl in Dachstock und öffnete leise die Wohnungstür.
5. Am frühen Abend wehte Sturmwind, und es fielen Hagelkörner so gross wie Walnüsse. Eisstücke dieser Grösse, die gewaltig vom Himmel stürzten und laut in die Fensterscheiben schlugen, hatte er nie zuvor gesehen. Plötzlich zersprang eine Fensterscheibe und eine hohe alte Pappel brach donnernd im Garten auf der anderen Strassenseite zusammen. Nun lag der Riese kaputt auf der Erde. Er stockte.

6. Sie betrat das Zimmer und legte ihre weichen Hände auf seine Schultern. Vor kurzem brachte die Frau ihre ältere Tochter nach Hause und sie zogen sich trockene Kleider an. Nun standen sie zu dritt vor dem Fenster. Er merkte, wie sie und er gleichzeitig den Atem anhielten. Sie beobachteten das Gewitter, dem Donnern aufmerksam lauschend. Ihre jüngere Tochter versteckte sich im Bett. Es mag sein, dass ihr genetisches Gedächtnis das Gewitter mit dem Krieg assoziierte. Vielleicht hatte sie Angst vor Militärflugzeugen, vor fallenden Bomben und erwartete den Einsturz des Hauses.

7. Er schaute sich um. Das Kind lag gekrümmt da, der Wand zugewandt. Es schluchzte gedämpft, wickelte sich in die Decke ein und versteckte den Kopf unter dem Kissen. Kam es ihm unheimlich vor, dass die Erwachsenen den „Krieg“ still beobachteten, statt sich zu schützen? Niemand sonst schien sich um das Mädchen zu sorgen. Möglich, dass wegen des Gewitters sein Weinen einfach nicht zu hören war.

8. Der Regen wurde allmählich leiser, hörte jedoch nicht ganz auf. Die Familie widmete sich verstohlen dem Alltag. Er hörte die Frau in der Küche und half ihr das Abendessen zuzubereiten: Tomaten, Mozzarella, Basilikum, gelb-grünes Olivenöl – diese Vorspeise erinnerte an das sonnige Land, wie ihn unschuldige Kinder und Touristen kennen. Die Hauptspeise jedoch, Forelle, die er nun mit vielen Gewürzen im Ofen zu backen beabsichtigte, rief bei ihm eine andere Art von Erinnerungen wach: Die Stadt am Wasser. In diesem feuchten Venedig, durchdrungen von Gebrechlichkeit und Dekadenz, war  er nur ein Mal gewesen. Er konnte nicht sagen, dass es ihm gelungen war, Venedig zu lieben. Jedoch gerade dort fühlte er sich zum ersten und zum einzigen Mal in diesem Leben Zuhause.

9. Am Tisch sprach er sehr wenig und schaute immer noch zum Fenster. Er verspürte  abendliche Schläfrigkeit, nach dem Essen war sie mit einem leicht beschwerlichen Gesättigtsein vermischt. Er war ziemlich zerstreut. Unbekümmert befragte er die ältere Tochter über ihre Schulnoten, schaute durch ihre grünen Augen hindurch und hörte ihre Antworten nicht wirklich. Der Kopf tat ihm weh. Er war müde und ging bald ins Bett.

10. Am frühen Morgen aufgewacht, begab er sich ins Büro. Er zog einen langen schwarzen Mantel über den grauen Anzug an und nahm einen Regenschirm mit: draußen regnete es immer noch. Er sass vor dem Computer, links tickte eine Pendeluhr, und er versuchte vergeblich sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Sein Blick wanderte vom Monitor über das Zifferblatt zum Fenster. Er betrachtete die Sonne, die kurz graue Wolken durchriss, und das Wasser, das vom Himmelskörper erleuchtet war. Das Bild schien, obwohl doppelsinnig und ambivalent, immerhin ziemlich malerisch zu sein. Lichtreflexe tanzten auf dunkelgrünen Blättern und spiegelten sich in den Pfützen wider, grell funkelnd, wie der Glanz von russischem Platin. Diese Lichtreflexe flößten ihm nostalgische Gedanken ein. Er war darum besorgt, sich von diesen nicht ablenken zu lassen und starrte wieder auf das Pendel, das sein Leben mit jeder Schwingung in einen monotonen Rhythmus verkürzte. Seine Kollegen im Büro schwiegen fast den ganzen Tag lang, was ihnen sonst nicht eigen war. Ihn liess die Stille leidenschaftslos. Das Schweigen beunruhigte nicht, im Gegenteil: Er fühlte sich berührt und zufrieden, ging früher als sonst nach Hause und verlor am Familientisch einige liebe Wörter.

11. Es war der vierte Regentag als die Stadtbewohner sich zu sorgen begannen. Wie der Wetterdienst bestätigte, hörte der Regen in dieser Zeit nicht Mal für eine Minute auf. Der Nachbar, den er im Treppenhaus antraf, beklagte sich darüber. Er müsste nun jeden Tag sein Auto putzen. „Ja, es tut mir Leid…“ – antwortete er dem müden Mann gähnend und hielt ihm die Haustür auf. Der alte bucklige Hausmeister, der auch noch kurz im Treppenhaus zu sehen war, erweckte in ihm ebenfalls Mitleid. Draussen bewegten sich die Reinigungsmaschinen im Schneckentempo entlang des Kanals. Die Augen der Männer, die am Steuer sassen, schienen hinter der feuchten Frontscheibe noch trauriger und ergebener zu sein als sonst. Als er abends vom Büro zurückkam, ertappte er die Frau, wie sie den Kindern eine Strafpredigt hielt, da diese schon wieder mit nassen Schuhen in die Wohnung gekommen waren. Die Kinder standen mit gesenkten Köpfen da. Sie hielten die Hände hinter dem Rücken und sahen demütig aus. Das Bild kam ihm absurd vor. Er gab  beiden Mädchen neue trockene Strümpfe und umarmte die Frau zärtlich um die Taille, – so als ob er mit diesem Zeichen darum bitten wollte, etwas leiser zu sprechen. „Vier Tage ununterbrochen ein trostloses, trübes Wetter und durch und durch nasse Füsse, auch wenn eine Erkältung folgen könnte, – ist das nicht das schlimmste, was uns passieren kann?“ Sie seufzte laut. Diese rhetorische Frage bedarf keine Antwort. Er hatte Recht.

12. So seltsam ihm das erscheinen mag, aber gerade die Kinder waren mehr als alle andern wegen des andauernden Regens beunruhigt. Sie träumten vom Tsunami, sprachen im Schlaf und sehnten sich am Morgen nach Geborgenheit und Berührung. Jeden Tag fragten sie abwechselnd: „Papa, wann wird der Regen aufhören?“ Er antwortete mit einer depressiven Note: „Ich weiss es nicht.“ – ausdruckslos, etwas distanziert, melancholisch. Seine beständige Ungewissheit schien die Mädchen noch mehr zu verunsichern. Deshalb wandten sie sich mit der gleichen Frage an die Mutter. Sie versuchte das Thema zu wechseln und die Kinder vom Regen abzulenken. Als der Regen während der folgenden Woche fortdauerte, gelang es ihr immer weniger. Dennoch klang das Drängen der Töchter in der vierten Woche unisono ruhiger. So, als ob sie die Eltern im Einklang mit dem Regen befragten. In dieser Zeit wurde er schwächer, zur allgemeinen Freude der Stadtbewohner, die eine Überschwemmung befürchteten. Der Wasserstand im See drohte bald den kritischen Wert zu erreichen.

13. Die ungewöhnlich grell scheinende Sonne mitten im Regen, die am dreissigsten Tag plötzlich wie aus dem Nichts kam, schien eine übernatürliche, aussergewöhnliche Erscheinung zu sein. Zum ersten Mal seit langer Zeit gingen die Städter ohne Kopfbedeckung und Regenschirm, die inzwischen zur Gewohnheit geworden waren, auf die Strassen. Er stand mit der Familie auch draussen. Die Nachbarn bereiteten ein Fest vor. Sie wollten das Ende des Regens feiern, den sie als eine zu lange dauernde, und darum fast schon grausam gewordene Laune der Natur wahrnahmen. Immer kleiner, dünner, transparenter werdende Wasserstrahlen kamen ihnen wie ein Gottessegen vor, und die Menschen waren sich sicher: Jeden Augenblick wird der Regen ganz aufhören und schon bald wird alles wieder beim Alten sein. Die Männer gingen in die kleinen Läden und kehrten zurück mit Einkaufstüten, in denen ihre Kinder und Frauen Süßigkeiten, Früchte oder Wein vorfanden. Einige Menschen hatten die Flaschen bereits geöffnet und brachten einen feierlichen Trinkspruch aus, als wäre dieser wie ein Stempel auf ihren Lippen gedruckt,: „Auf das Ende des Regens!“ Kaum ein Nachbar, ausser wohl ihm, zweifelte am Ende. Er aber, obwohl er auch Wein eingekauft hatte, beschloss für sich die Flasche erst dann zu öffnen, wenn der letzte Tropfen vom Himmel gefallen wäre und er danach bis auf Zehn zählen könnte. Jedoch fielen die Tropfen, obwohl nur sehr selten, weiter, in einer zögernden, faszinierenden Reihenfolge.

14. Die seltsame Koinzidenz beschäftigte ihn. Die Logik des Klimas und des Wetters, selbst die irrationale Logik der Natur, nicht bloss Omen, Intuition oder innere Stimme, sprachen dafür, dass der Regen im nächsten Moment aufhören würde. Wäre es nicht möglich? Aber doch! Der Regen liess aber nur nach. Die Sonne schien, wie es von ihr in der Hochsaison erwartet wurde und die Menschenmenge, durch die Strassen schwärmend, lärmte und lachte, der Lust des Frühlings folgend. Die Jungs sprachen lauter als sonst, mit vorsätzlicher Heiterkeit in den Himmel schauend, ohne Angst geblendet zu werden; sie unternahmen alles Mögliche und Unmögliche um ihre Freundinnen zu amüsieren. Einige schenkten ihnen weinrote Luftballons, die anderen Schokoladeneis oder lustige Postkarten. Ein Junge sprang hoch und versuchte spasseshalber die Sonne zu fangen. Er schaute weg. Den sentimentalen Geschmack des Anblicks bewertete er innerlich als zu süss.

15. Er versank in Erinnerungen. Die Sonne, die frech am Himmel schien, während es überall in der Stadt unaufhörlich regnete, stand im Zusammenhang mit einer ungewöhnlichen Vitalität der Stadtbewohner. Er kam sich vor wie beim Klezmer-Konzert im jüdischen Viertel, das er als Kind im Jahr der Belagerung von L. zufällig auf einer Strasse vor der ruinierten Synagoge anhörte. Die Leichname der vom Hunger gestorbenen Menschen und Hunden lagen im Zentrum eines halb zerstörten Stadtviertels herum, und die Musik, unendlich traurig und lustig gleichzeitig, prägte sich in seinem Geist für immer ein. Die Melodie spielte Regen nach, der Rhythmus war genau gleich. Oder war es eine Gehörtäuschung? Wie dem auch sei, Sonne und Regen waren ein Paradoxon par excellence. Der genauso „real“ war, wie seine Vergangenheit.

16. Er sass auf dem Granitgeländer des Seeufers und blickte starr vor sich hin. Die Kinder spielten sorglos unter dem Regen. Er bemerkte die Berührung der Frau erst jetzt wieder. Sie war nicht mehr so zärtlich, wie damals. Sie war fester und fordernder, so, als ob sie in der schweigenden Präsenz seines Körpers ihren Halt suchte. Sie legte den Kopf auf seine Schulter und schaute, ruhig und still, wie eine Sphinx, in den Himmel, der fast wolkenlos war. Fast.

17. Die Ungewissheit dauerte lange, ungefähr drei Stunden. Diese Stunden waren mit Erwartung und der Hoffnung erfüllt, die langsam mit der Bewegung des Minutenzeigers tauten. Später überzog sich der Himmel mit Wolken und der Regen wurde wieder stärker. Er sang sein ewiges, trauriges Lied. Die Menschen schleppten sich dem Ufer entlang und schauten auf die unleserlichen Wasserkreise, die unter ihren Füßen in den Pfützen zerflossen. Sie kehrten mit unverhohlener Verzagtheit zurück in ihre Häusern und zu ihren Sachen. Morgen würden sie wieder zur Arbeit gehen und ihre abgenutzten Regenschirme mitnehmen müssen. Er dachte gerade, dass nur deren Hersteller sich über die steigende Nachfrage freuen würden, als er die Tränen in den Augen der älteren Tochter bemerkte. Das Mädchen versteckte eilig, aber doch zu spät, das Gesicht in einer nassen Illustrierten. Sie wollte ihren spontanen Tränenausbruch vor den Eltern verheimlichen. Die halbwüchsigen Jungs aus der Nachbarschaft schienen dagegen ziemlich verbissen gelaunt zu sein. Ohne zu wissen, wie sie ihren Ärger loswerden, warfen sie schwere Pflastersteine, die chaotisch verstreut entlang des Weges lagen, in den See. Damit produzierten sie Plätschern und Lärm. Der kindliche Protest gegenüber den Kräften der Natur klang bald ab. Die absurde Konfrontation löste sich schliesslich ganz auf, um am nächsten Morgen den Dingen ihren Lauf zu lassen.

18. Am siebzigsten Tag, als es immer noch unaufhörlich regnete, wurde darüber überall berichtet: im Fernsehen, in den Zeitungen, im Radio. Seit Jahrhunderten suchten die Journalisten nach Sensationen, und die andauernde Niederschläge waren eine solche Sensation gewesen, obwohl für keinen Einzigen der Stadtbewohner diese Berichte als solche vorkamen. Die Stimmung der Menschen war etwas gehoben, denn der Regen schien ein extraordinäres Ereignis zu sein, das etwas Abwechslung in die Routine des Provinzlebens brachte. Andererseits brachte der Regen natürlich auch Zwist und Niedergeschlagenheit mit sich. Dennoch nahm auch zu dieser Zeit fast niemand das Wetter ernst. „Der Regen wird von heute auf Morgen aufhören.“ – dachten die Stadtbewohner. Trotz der Meldung des Wetterdienstes über die längste Regenzeit der letzten einhundertfünfzig Jahre, zweifelte zu dieser Zeit kaum jemand an der Vergänglichkeit der Erscheinung. Einige Städter erinnerten sich an den Ring des Zaren Solomons, auf dem, wenn man Legenden glaubte, sein Lieblingssatz  eingraviert war: „Alles ist vergänglich.“

19. Doch je länger der Regen fiel, desto weniger hegten die Menschen die Aussicht, dass er aufhören würde. Als der Regen immer wieder fast verging, wurden zuerst noch da oder dort einige Hoffnungsblitze wahrgenommen. Dennoch erkannten mit der Zeit auch die grösste Optimisten, dass es sich dabei nur um ein Spiel handelte, einen Bluff des Wetters. Die Städter versuchten die kurze Zeit der Klarheit für Spaziergänge zu nutzen; sie bemühten sich darum, im spärlich sonnigen Wetter Kraft zu schöpfen, jedoch erwarteten sie nicht mehr, dass der Regen eines Tages ganz vergehen würde. An die guten Dinge gewöhnt man sich schnell, an die schlechten – langsam. Jedoch gewöhnt man sich an alles, es braucht nur Zeit. An den fortwährenden Regen – erst recht.

20. „Selig ist, der diese Welt besucht zu ihren schicksalhaften Zeiten“ – ging ihm irgendein pastoraler Ohrwurm durch den Kopf. Für ihn hat sich mit dem Regen de facto nicht viel verändert. Alles ging seinen gewohnten Gang. Die Frau, Kinder, Büro, gute Bücher am Abend, Sauna am Samstag und Préférence am Sonntag. Der Alltag unter dem Regen hatte auch angenehme Seiten. Nachts schlief er etwas tiefer als früher, und bei regnerischem Wetter Liebe zu machen, stellte sich sogar als romantisch heraus. Das Baden im See verwandelte sich nun in ein Ritual allgegenwärtiger Feuchtigkeit. Bei jedem Wetter das Wasser überall – um ihn herum, oben, unten…

21. In der langfristigen Perspektive deprimierte ihn der Regen in seiner Beständigkeit nicht, eher lauschte er ihm gespannt zu. Der Regen interessierte ihn, ab und zu entzündete er in ihm eine Leidenschaft, der Neugier ähnlich. Er beeilte sich nicht diese zu befriedigen. Mitten im Arbeitstag stellten sich ihm alte, aber auch neue Fragen. Manche von ihnen begannen mit „Warum?“: „Warum ausgerechnet in der kleinen Stadt am See?“, „Warum gerade in der Frühling?“, „Warum regnet es für ihn, den Mann?“ „Warum für sie, die Frau? “ „Und warum machen sich die Kinder am meisten Sorgen?“

22. In diesem regnerischen Zustand des stummen Fragens vergingen vier Jahre. Während dieser Zeit ging er sechs Tage pro Woche ins Büro, starrte auf die Wanduhr und versuchte die Vergangenheit um jeden Preis nicht hervor zu holen. Er flüchtete vor jeder Erinnerung darüber, was mit ihm nach der Belagerung von V. geschehen war, bevor es unaufhörlich zu regnen begonnen hatte. Er mied ebenfalls jeden Anblick von jungen rothaarigen Frauen. Wenn er welche traf, schaute er nach unten, auf ihre Füsse, und keinesfalls direkt in die Augen. Er tat es bewusst. Dennoch hielt sich sein Blick auf die weissen Lilien im Park, genau die gleichen wie auf dem Balkon von L., viel zu lange auf. Im Kaufhaus roch er am Parfum namens Hypnotic Poison, an ihrem Lieblingsparfum. Und nachts träumte er manchmal von ihren feuchten Lippen.

23. Die Fragen beunruhigten ihn weiterhin. „Woher kommen Sie?“ – fragten ihn alle: Kunden, Kollegen, Bekannte und Unbekannte. Diese Fragerei, wie kleine Stacheln von lästigen, giftigen Insekten, trieb ihn täglich in Selbstqual. „Aus der Yoni,“ – pflegte er abgewinkt zu antworten und wurde dann in der Regel ausgefragt, wo denn diese Stadt liegt. „Klingt wie etwas Japanisches…“ – flüsterten die meisten Frauen interessiert und verträumt und schauten ihn rätselhaft an, so, als ob sie ihn zu etwas Geheimem oder Verbotenem verführen wollten, oder ihn bloss ins Bett zu locken beabsichtigten. „Ist es denn in Tirol? Oder in der Toscana?“ – fragten ihn alte Männer naiv, jedoch völlig ernsthaft, wie kleine Kinder. Die meisten Menschen wussten nicht, dass Yoni ursprünglich auf Sanskrit „Scheide“ heisst. Sie wussten nicht, dass es den Staat, in dem er geboren wurde, nicht mehr gab.

24. Die politischen Umstände formten sich so, dass sein Heimatland, das fast ein Viertel der Erdkugel ausmachte, ziemlich plötzlich, in einer Nacht, wie ein stolzer, noch lebendiger Hahn in einer Metzgerei blutig zerlegt wurde. Er könnte doch seinen Kunden im Büro von einem Dutzend geilen Metzgern erzählen, die, wie es in einem Rock-Lied aus seiner Heimat hiess, „ein Berg aus Speck frassen, ein Meer aus Bier tranken und eine ganze Armee fickten, und denen dies immer noch nicht genug war“. Er könnte seinen Kollegen von Männern in Uniform berichten, die nach Schweiss und Knoblauch stanken und die, wie  es im Lied hiess, „selbst vor dem heranrückenden nördlichen Sturmwind nach besten Plätzen Ausschau hielten, um aus der Nähe zu beobachten, wie ein antarktischer Tornado ihm Handgelenke herausdrehen und den Darm herausreissen würde“. Heute, viele Jahre später, konnte er sich vor Bekannten und Unbekannten nackt ausziehen und ihnen die Spuren vorführen, die nach Jahren der „Berufserfahrung“ am Unterleib blieben. Ihm wird es nichts ausmachen, gar nichts, sich allen diesen fragenden Menschen nackt zu zeigen. Er könnte sich ihnen unterwerfen, sich einem Verhör unterziehen, an dem sie ihn alles, gar alles fragen dürften, was sie so brennend interessierte. Er würde ihnen ausführlich darüber berichten, was er machte und gemacht hat, und woher er kam, und wie er wirklich heisst. Er würde seine natürliche Scham unterdrücken, Normen über Bord werfen, Konstrukte brechen, arrogant klingen, unanständig erscheinen, damit die Fragenden sich überraschen lassen und so tun, als ob sie ihn, den Entblössten, nicht bemerken. Und doch bemerkten sie ihn, und vielmehr noch: sie werden diesen Anblick nie vergessen! „Их мысли заполнит твое тело…[1]“ – zitierte er das Lied und befahl sich selbst: „Разденься! Выйди на улицу голым! И я подавлю свою ревность, если так нужно для дела… Разденься!“[2]

25. Aber, nein, er müsste sich sammeln, bloss sich sammeln, ruhig atmen, sich auf das Geräusch von draussen konzentrieren, sich auf das Nieseln des Regens konzentrieren, auf den Klang der schweren Regentropfen auf der Strasse. Er konnte aber doch nicht den Menschen, denen er im Alltag begegnete, direkt ins Gesicht sagen, dass er aus der Vagina kam, auch wenn diese Tatsache der Wahrheit völlig entsprach, und auch wenn er sonst immer versuchte die Dinge, und vor allem die Organe, bei ihrem Namen zu nennen. Und so antwortete er ihnen, scheinbar gelassen: „Ach, die Yoni… Die Yoni liegt in der Mutter. Unter dem Bauch. Im Unterleib.“

26. An einem Samstag sah er den Blitz, ganz plötzlich, mitten am Tag. Er ahnte, dass es ein Zeichen war, das er aber nicht in der Lage war, auch nur entfernt zu deuten. Eine unbekannte Kraft öffnete in ihm Tür und Tor, es war ungewöhnlich, und er vermutete, dass er bald eine andere, neue Sicht auf das Wetter erfahren würde. Der Regen liess etwas nach. Er schlug der Frau vor, ein paar Stunden zu wandern, nicht lange, nur ein paar Stunden. Beim Aufstieg lief er hinter ihr, ihre schlanke Statur bewundernd. Nach dem Abstieg kauften sie ein. Er half ihr die Taschen zu tragen. Und sie las ihm ihr Paarhoroskop für die nächste Woche vor.

27. Am Abend zündete sie, wie jeden Samstag, sieben Kerzen an. Er starrte auf ihre Hände, die sich graziös bewegten. Er sprach den Segen, leidenschaftlich, jedoch nicht übertrieben, wie sein Vater es immer getan hat:
„ברוך אתה ה‘ אלהינו מלך העולם, שהכל ברא לכבודו.“ [3]
Sie wuschen sich die Hände und verteilten ein bescheidenes Abendessen. Am Tisch sitzend sangen sie im Chor, mit ihren zwei und drei anderen Kindern aus der Nachbarschaft, die sie an diesem Wochenende betreuten:
„סימן טוב ומזל טוב“ [4]
„אָמֵן“ [5]

28. Einige Tage später bewegte er sich zur Stadtbibliothek. Er beabsichtigte irgendetwas über das Klima zu erfahren. In der Kartei versuchte er eine wissenschaftlich fundierte, ernste und tiefgründige Arbeit zu finden, die sozusagen das Licht in den Regen bringen konnte. „Das Klima ist ein äusserst komplexes, am kompliziertesten verwickeltes System, das es im Universum gibt. In seinem strukturellen Aufbau erinnert es uns an das menschliche Gehirn und an gewisse Bewusstseinsmodelle. Denn: genau das, was bei uns im Inneren passiert, beobachten wir in der äusseren Welt, wie im Spiegel.“ – hiess es im ersten Teil des Vorwortes zum ersten Buch, das in seine Hände gelang. Diese entmutigende Sentenzen befriedigten seine Neugier nicht im Geringsten. Er drehte ein Handvoll Seiten um und las weiter an einer zufälligen Stelle.

29. „Das Auftreten von zuerst unbekannten Bewusstseinszuständen und seelischen Anomalien, die mit der Zeit den Charakter von konstanten Phänomenen annehmen, wurde mehrmals von Psychologen, Soziologen, Philosophen beschrieben. Für fortwährend dauernde Prozesse und Normwidrigkeiten sind starke Schwankungen zu Beginn typisch, die allmählich nachlassen und vergehen. In der Endphase wird das System stabilisiert, es werden jedoch im individuellen oder im kollektiven Unbewussten Spuren hinterlassen, die sich in der Form von immer selteneren Ausbrüchen von Affekten manifestieren, wie etwa Proteste, Auflehnung, Unzufriedenheit, Wut und Verzagtheit. Dem Mensch, der denken, vergleichen und vorhersagen vermag, erscheint es selbstverständlich. Darum gibt es im Prinzip überhaupt keinen Anlass sich aufzuregen. Ein menschliches Wesen scheint in der Lage zu sein sich mit vielen schicksalhaften Ereignissen, Schmerzen und Krankheiten abzufinden, sogar mit dem Tod. Im Vergleich dazu stellt ein kaltes Klima als solches eine nur relativ kleine Herausforderung dar.“

Sein Wunsch das Buch weiter zu lesen verschwand.
Vielleicht war er einfach zu faul dafür? Vielleicht besass er nur ganz wenig den Forschungsglut? Er stellte das Buch zurück ins Fach und ging nach Hause um mit den Kindern zu spazieren. Unter dem Regen.

30. Einmal im Monat besuchte er einen Psychoanalytiker. Nicht, weil er sich selbst nicht als psychisch gesund erachtete, nein. Auch nicht, weil diese Besuche ihm das Geschehene auf irgendeine Art zu reflektieren halfen und ihm dadurch irgendeinen Nutzen erbrachten. Vielmehr hielt er es für Menschen seiner geistigen Verfassung für angebracht. Beim letzten Besuch fragte sein etwas phlegmatischer Therapeut plötzlich, nach einer längeren Pause, ihm tief in die Augen schauend: „Erinnern Sie sich, wann Sie das letzte Mal Freude verspürt haben?“ Er zögerte mit der Antwort, wandte den Blick jedoch nicht ab. Nach einem tiefen Atemzug antwortete er auf die Frage mit einer anderen Frage: „Und Sie?“  Der Therapeut schwieg.

31. Im Frühling gewöhnte er sich daran, am See entlang des Hafens zu spazieren. Er hatte vor, ein gebrauchtes Boot zu erwerben. Auf den Wellen unter der Regen zu segeln und nachts zu schlafen stellte er sich als Zustand der Einheit mit dem Wasserelement vor. Als er die Namen von Booten las, hielt sein Blick auf einem Schild auf: „Lilith“. Eine Eichenplatte, geschmückt mit roten Lettern und Ornamenten, eine römische Antiqua-Schrift. Er erinnerte sich an das Lied aus seiner Kindheit: „Wie Sie Ihr Schiff nennen, so wird es schwimmen…“  und entschied sich dazu, andere Bootsnamen zu lesen. Die weiblichen Namen und die Blumen dominierten: „Rosa“, „Margareth“, „Camilla“, „Viola“, „Lolita“… Im Hafen parkierten auch noch: „Nirwana“, „Romandie“, „Tochter der Ruhe“, „Gelassenheit“. Eine Ansammlung von Frauen, Gefühlen und Ländern, nach die denen Bootseigentümer sich sehnten, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Manche Boote besassen keine Namen. Nur die Nummern.

32. Als er Wasservögel beobachtete wurde ihm bewusst, dass er Ornithologe werden musste. Er konnte stundenlang am Ufer sein und in die Augen von Möven, Enten und Schwänen schauen, ergötzt von Farbspielen ihrer Federn, von der Grazie ihrer Silhouetten. Immer öfter schimmerte im Blick einer Ente eine unmerkliche, ewige Wahrheit durch. Und manchmal erschienen ihm diese Vögel weiser als Menschen. Je länger er sie beobachtete, desto mehr verwandelte sich seine vage Vorahnung in eine Zuversicht. Er erinnerte sich, wie er als Student ein Philosophieseminar besuchte, das „Können Tiere denken?“ betitelt war. Damals erschien ihm die Frage berechtigt, heute wusste er die Antwort. Mindestens die Wasservögel waren imstande nicht nur zu denken, sondern auch so zu existieren, als ob sie bereits seit einer langen Zeit den Menschen weit voraus waren und den Sinn der Existenz begriffen haben. Worin konnte der Sinn bestehen, wenn nicht im Folgen des Flusses, in der Suche nach Brot unterwegs? Was könnte oder müsste man sonst noch tun, was wäre hier sonst noch angebracht, wenn nicht lieben, das Nest flechten und die Kücken grossziehen?
Die stumme Weisheit der Vögel schockierte ihn. Das Weltbild, das den Mensch als Krone der Schöpfung in den Mittelpunkt stellte, war in einem Augenblick entthront und gestützt, zerlegt in Flaum, Staub und Asche.

33. Nun standen ihm schwimmende und fliegende Wesen sehr nahe. Mit der Zeit erkannten sie ihn und gestatteten sogar flüchtige Berührungen. Die Intensität des Kontakts von warmen menschlichen Händen mit den kalten glitschigen Federn bestand gerade in der Flüchtigkeit des Augenblicks. Während des Sonnenuntergangs fütterte er die Wasservögel mit harter Baguette. Im Wasser wurde das Brot schnell weich. Die stille Nähe von Enten, Möwen und Schwänen war der zarteste Anteil seinen monotonen Alltags.

34. Auf einer Wanderung, an einem Tag als der Regen wieder schwach wurde, traf er zwei Enten, ein Weibchen und ein Männchen, die sich auf den Steinen wärmten. Das Weibchen döste, indem es den Kopf in den Federn versteckte, und das Männchen beobachtete aufmerksam zufällige Passanten. Er ging auf die Knie, nur ein Paar Schritte von ihnen entfernt, und schaute konzentriert ins Entenauge. Es schien ihm, als würde ihn der Vogel nicht weniger erkennen, als er ihn zu erkennen vermochte. In seiner starren Erwartung, in der Neutralität der Pose schimmerte ein Interesse für das Wesen des Menschen durch, ein Wissbegierde, das er noch nie im Auge eines Menschen getroffen habe.

Als er seinen Blick wandte, bemerkte er, wie ein Schiff voller Touristen in der Ferne verschwand. Er beobachtete Menschen, die auf dem Heck euphorisch Zuckerwatte assen. Sie winkten mit den Pfannen und versuchten sich mit Hilfe der Kameras unter der Kabine des Kapitäns zu verewigen.

35. An einem anderen Regentag nahm er ein warmes Bad und bereitete sich einen doppelten Espresso zu. Die Frau machte sich in der Küche geschäftig, geleitet durch ihre übliche Eitelkeit. Er fragte sie geradeheraus, überraschend, viel zu spontan, ob sie nicht Lust verspürt ein drittes Kind zu zeugen:

„Wir brauchen mehr Bewegung“, sagte er. „Wir müssen uns irgendwie weiterentwickeln, in irgendeine Richtung gehen. Aber ich weiss auch nicht genau, wohin… „

„Wohin gehen wir? Was erwarten wir? Was erwartet uns?“ antwortete sie monoton mit vielen Fragen, die ihn an Zitat von Ernst Bloch erinnerten. Er verstummte.

„Manchmal kann ich nachts nicht schlafen“, – sagte sie. „Dann frage ich mich, wie ein kleiner Mensch die Welt des ewigen Regens wahrnehmen wird? Ein Kind, das irgendwann erwachsen wird, dem es jedoch erspart bleibt, eine klare Sonne und einen reinen, unbewölkten Himmel zu erblicken…“

36. Es schien ihm, dass sie verzweifelt und bitter sprach, obwohl sie von aussen gewöhnlich aussah. Er stand daneben, nicht Mal drei Schritte weit von ihr entfernt, und er konnte nicht ahnen, woher ein rhythmisches Pochen kam – war es der Regen, der am Dach pochte, oder war es ihr, oder sein Herz? Über das Gesagte dachte er nicht lange nach. Seine eigene Stimme hörte er eben, gleichmässig, neutral:
„Ich glaube, dass der Regen die innere Welt eines Neugeborenen kaum beeinflussen wird. Es kann sein, dass sie sich sogar weniger melancholisch gestalten lässt als die unsere. Die Langeweile, eine passive und trockene Langeweile, wird vielleicht in seinem Leben dominieren, oder es sogar bestimmen. Doch höchstwahrscheinlich wird dem Kind unter dem Regen einfach nicht das Glück oder das Unglück gegeben, den Regen so zu spüren, wie wir ihn spüren. Und wenn doch, was hindert uns daran einen Versuch zu wagen? Ausserdem… ausserdem kann der Regen in jedem Moment aufhören.“

37. Sie wandte den Blick ab, schaute aus dem Fenster. Ihr war kalt. Sie drückte ihren Körper an die gusseiserne Heizung und fragte leise:
„Warum denkst du so? Warum kann der Regen in jedem Moment aufhören?“
„Weil das, was plötzlich begonnen hat, auch genauso plötzlich aufhören kann.“
Dagegen hatte sie nichts einzuwenden. Sie lächelte. Sie war still. In Gedanken versunken, auf den Gehweg aus dem Fenster schauend, beobachtete sie meditativ, wie die schweren Silbertropfen an den Fensterscheiben zerbrachen. Er stand hinter ihr und küsste zärtlich ihren Nacken. Er fragte sie:
„Was fühlst du gerade?“
Und sie antwortete:
„Nichts.“

38. Er berührte ihre Hand. Sie setzten sich an den Tisch. Nach dem Abendessen brachten sie die Kinder ins Bett. Sie gingen ins Schlafzimmer. Rein äusserlich geschah alles wie immer:
Geschlossene Türen, geöffnete Münder, entblösste Körper.
Zärtlichkeiten.
Grobheiten.
Ein Orgasmus, plötzlich herbeiströmend, abgerissen, wie ein Krampf.
Er ergoss sich in sie, rhythmisch schauernd.
Genauso wie der Regen draussen.

39. Es war ihm bewusst, dass Ihre Welten sich stark verändert hatten, seitdem sie sich kannten. Das erste Kind war gezeugt worden, als sie durch gegenseitige Verliebtheit beflügelt wurden: so, als ob sie das Vergnügen in der Stille, in der Erwartung auf einen höheren Ruf achtsam belauschten. Die zweite Zeugung war das Ergebnis ihrer festen, reifen Beziehung. Sie floss aus dem Wohlgefühl heraus, aus dem Überschuss an gegenseitiger Zuneigung und Verbindlichkeit. Es geschah am frühen Morgen unter dem freien Himmel im Garten seiner Mutter. Ihrem wonnigen, süssen, echten Stöhnen sangen die Vögel nach. Das dritte Kind erwies sich als Resultat des fortwährenden Regens und des Seelenzustandes, der mit dem Regen zusammenhing. Um das Klopfen des Regens auf das Blechdach zu unterdrücken, stand er kurz auf und spielte seine Lieblingsplatte ab, das zweite Klavierkonzert von Rachmaninoff. Die Glocken schlugen feierlich und leidenschaftlich.
Aber ihr lautes, tiefes Atmen hörte er jetzt nicht mehr.


40. Er schlief ein in einer seligen Wonne, während er unbewusst den ungestümen Klavierpassagen und dem Klang der Glocken zuhörte. Es klang so, als ob sie  zur Unsterblichkeit aufriefen. Im träumerischen Schlummer dachte er über die Frage nach, die sie ihm am heutigen Abend stellte, über die eigene Antwort. Den Kindern, die während des Regens gezeugt werden, erscheint der Regen als etwas Selbstverständliches. Ein klares, trockenes, sonniges Wetter wäre für sie hingegen eine Legende. Sie wären vielleicht in der Lage, es gedanklich zu fassen, als Geschichte, die Erwachsene ihnen erzählen. Als ob der fortwährende Regen in ihren Genen festgeschrieben wäre, als ob er ein für alle Mal sich in ihren Seelen versiegelte. Der Regen bildet für sie einen Hintergrund für das restliche Leben, den man aus der stillen Präsenz des Daseins nicht ausschliessen kann. Er war immer schon da, wie der Körper, der Raum und die Zeit. Darum wird der Regen sie nie in Staunen versetzen. Er wird keine Seelenqualen bei ihnen verursachen. Sie werden den Regen als Gegebenes annehmen.

Auch die Stadt unter dem Regen war und wird für sie nie anders sein. Im Gegenteil, es wird sie sehr überraschen, wenn der Regen plötzlich aufhören wird, die Pfützen trocknen und der Himmel völlig klar wird. Das stellt sich ihnen als etwas Unglaubliches dar, wie eine seltsame Erscheinung aus dem Kinderbuch, die plötzlich zur „Realität“ wurde.



[1]          Rus.: Dein Leib wird ihre Gedanken auffüllen…

[2]          Rus: Zieh dich aus! Gehe nackt auf die Strasse! Und ich werde meine Eifersucht unterdrücken, wenn es für die Sache nötig erscheint. Los! Zieh dich aus! (Nautilus Pompilus / I. Kormilzev „Striptease“; 1986.)

[3]   [Barukh ata Adonai Eloheinu melekh ha‑olam shehakol bara lichvodo] Gesegnet seist Du, GOTT, unser Gott, König des Universums, Schöpfer der Frucht des Weinstocks.

[4]   [Siman tov umazal tov] frei übersetzt Viel Glück oder Viel Erfolg.

[5]   [Amen]


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